Hermann Hesse – Unterm Rad

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Andi Meyer am 15. November 2010 um 12:37 Uhr

Hans Giebenrath, exzellenter Schüler, Zweitbester im Landesexamen in Stuttgart, verliert sein Leben. Er ist ein Getriebener. Von den Ansprüchen vermeintlicher Vorbilder angestachelt zwingt ihn sein Ehrgeiz auf einen selbstzerstörerischen Weg. Die natürliche Unbekümmertheit seiner Kindheit geht ihm auf immer verloren. Zu spät zerbricht er am inneren Zwang zum Erfolg in einem Korsett vorgegebener Konventionen. Seine Kraft ist verloren und er hat keine Möglichkeit mehr, dem Ruf einer «dunklen» Freiheit zu folgen. Das Leben Hans Giebenraths ist gescheitert. Doch die Gesellschaft ist gerettet, die Pädagogen haben ihren Auftrag erfüllt:

«Man sage nicht, Schulmeister haben kein Herz und seien verknöcherte und entseelte Pedanten! O nein, wenn ein Lehrer sieht, wie eines Kindes lange erfolglos gereiztes Talent hervorbringt, wie ein Knabe Holzsäbel und Schleuder und Bogen und die anderen kindischen Spielereien ablegt, wie er vorwärtszustreben beginnt, wie der Ernst der Arbeit aus einem rauen Pausback einen feinen, ernsten und fast asketischen Knaben macht, wie sein Gesicht älter und geister, sein Blick tiefer und zielbewusster, seine Hans weisser uns stiller wird, dann lacht ihm die Seele vor Freude und Stolz. Seine Pflicht und sein im vom Staat überantworteter Beruf ist es, in dem jungen Knaben die rohen Kräfte und Begierden der Natur zu bändigen und auszurotten und an ihre Stelle stille, mässige und staatlich anerkannte Ideale zu pflanzen. Wie mancher, der jetzt ein zufriedener Bürger und strebsamer Beamter ist, wäre ohne diese Bemühungen der Schule zu einem haltlos stürmenden Neuerer oder unfruchtbar sinnenden Träumer geworden!»

«Es war etwas in ihm, etwas Wildes, Regelloses, Kulturloses, das musste erst zerbrochen werden, eine gefährliche Flamme, die musste erst gelöscht und ausgetreten werden. Der Mensch, wie ihn die Natur erschafft, ist etwas Unberechenbares, Undurchsichtiges, Gefährliches. Er ist ein von unbekanntem Berg herbrechender Strom und ist ein Urwald ohne Weg und Ordnung. Und wie ein Urwald gelichtet und gereinigt und gewaltsam eingeschränkt werden muss, so muss die Schule den natürlichen Menschen zerbrechen, besiegen und gewaltsam einschränken; ihre Aufgabe ist es, ihn nach obrigkeitlicherseits gebilligten Grundsätzen zu einem nützlichen Gliede der Gesellschaft z machen und die Eigenschaften in ihm zu wecken, deren völlige Ausbildung alsdann die sorgfältige Zucht der Kaserne krönend beendigt.»

Es scheitert auch die Hoffnung von Joseph Giebenrath, Hans Vater, mit dem Erfolg seines Sohnes seiner durchschnittlichen Wohlanständigkeit etwas Glanz zu verleihen. Mit dem Blick auf den Vater beginnt und endet die Geschichte. Sein Charakter scheint pastell. Er ist ein Gebrochener, besiegt und eingeschränkt. In einigen Augenblicken seinem Sohn so nahe, und doch unfähig zu erfassen, was Hans zu einem wahrhaft besonderen Menschen machen könnte. Selbst aus der «seltsam schmerzlichen Gedankenfülle» im letzten Moment dieses Buches kann er nur zurückschreiten in die «Niederungen seines gewohnten Daseins». Trotz seines eigenen schweren Lebensweges kann er «mit jedem beliebigen Nachbarn Namen und Wohnung tauschen, ohne dass irgendetwas anders geworden wäre. Was ihm sein Leben ermöglicht, erstickt zugleich alles Lebenswerte, und er leistet seinen Beitrag zum Scheitern seines Sohnes.

Zwei Vergleiche drängen sich auf: Hans und Demian, Hans und der Steppenwolf. In der Gerbergasse, im Falken und im Kreis der Gesellen begegnet Hans der Freiheit, die aber auch hier als Dunkelheit im Kontrast steht zum einst vorgezeichneten Weg. Ungleich Demian hat Hans aber nicht (mehr) die Kraft, sich der Freiheit zu öffnen. Er hat sich zu sehr verausgabt und dabei alles Natürliche und Wilde der Kindheit in sich zerstören lassen. Gleich Harry Haller wird Hans zum wahren Selbstmörder. Er gelangt an den Punkt, an dem er seinem Leben jederzeit ein Ende setzen könnte und es dennoch nicht tut. Doch auch diese Freiheit kann er nicht festhalten. Als Steppenwolf seinem Freund Heilner allein auf einem Weg der Unabhängigkeit zu folgen, ist ihm nicht möglich. Alles ist ihm verwehrt. Und so wird das Wasser, welches Hans so sehr liebt, der Ort seiner Erlösung.

(Gelesen im Sommer 2010)

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