Timm, Uwe – Der Freund und der Fremde

Kategorie: Gelesene Bücher
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Andi Meyer am 20. März 2008 um 02:57 Uhr

Der Tipp zu „Der Freund und der Fremde“ kam von meiner Tochter. Ihre Eindrücke hat sie in folgendem Lesetagebuch zusammengefasst.

Schon der Titel bringt mich ins Nachdenken. Gespannt schlage ich das Buch auf.

Das englische Gedicht, das wie ein Etikett auf der ersten Seite steht, vermag mich nicht anzusprechen. Es ist mir ein Rätsel, was es da verloren hat. Ich überfliege es bloss, springe schnell weiter zur nächsten Seite.

Dieser erste Blick, so beginnt das Buch, welches mich ganz in seine Welt entführt. Ich bin fasziniert. Die Sprache klingt in meinen Ohren, der Fluss, die Büsche und Weiden.. wunderschöne Bilder entstehen, vereinen sich zu einem Gemälde. Es gewinnt an Schärfe, als Benno auftaucht, selbstvergessen am Ufer der Oker sitzend.

Uwe Timm erzählt aus persönlicher Perspektive, im „ich“. Er reisst mich mit in seine Erinnerungen, tiefen Gedanken. Die Freundschaft der beiden muss ein seltener, um nicht zu sagen: einzigartiger, Schatz gewesen sein, verbunden durch Literatur und philosophische Gespräche. Und das andere, das Schreiben, für sich, es niemandem zeigen wollen, einfaches Schreiben. Auch ich schrieb für mich. Schreibe für mich, lese ich, denke ich. Identifiziere mich mit den Figuren, die irgendwo reale Menschen sind, der eine als Schriftsteller, der andere tot.

Dieses Wissen hämmert mir im Kopf. Es steht auf dem Buchumschlag.

Und dann lese ich es, schwarz auf weiss, erschossen. Benno Ohnesorg wurde mitten in Berlin erschossen, beinahe zufällig, auf einer Demonstration. Dieser junge Mann mit den vielen Plänen, den Träumen, dieser Mensch, der mich von Grund auf so sehr verzaubern konnte. Seine Hingabe an die Literatur, und auch die Freundschaft zu Uwe Timm… Tot? Ich lese weiter, bin gefesselt und doch scheint alles in Zeitlupe zu geschehen. Die Welt bleibt stehen. Die Ohnmacht gegenüber einer solchen Wirklichkeit übermannt mich. Diese Absurdität inmitten des Lebens, wie ist das möglich? Wie weiterleben, atmen, seine Pflichten tun, schlafen, schreiben? Wie kann ein Mensch leben und der andere nicht? Ich erinnere mich an eine Schulfreundin, die letzten Sommer gestorben ist. Es waren die selben Fragen, die jeder sich stellte. Die Sehnsucht, dass uns das jemand erklärt. Warum dieser Schuss? Vielleicht gab es nicht die von mir gesuchte tiefere Bedeutung. Ein Zufall… So beschreibt ein Hinterbliebener. Das Leben, zufällig und in seinem Sinn nicht deutbar, das ist alles.

Ich wehre mich dagegen. Will glauben, dass das irgendwie nicht alles ist. Halte mich an meinem Glauben, der mir durch und durch rätselhaft erscheint. Und trotzdem: wie kann ein Mensch leben, ohne zu glauben? Ohne ein tiefes Vertrauen, gegründet irgendwo in Gott, allein gelassen mit einem Wort namens Zufall? Was ist der Mensch, frage ich mich. Verdammt, diese Fragen kennen wir doch alle. Sisyphosarbeit.

Ich bewundere Uwe Timms Antrieb, etwas zu schreiben. Seine Versuche, immer wieder, bis das Geschehene zu Papier kommt. Er versteht es, die Dinge in Worte zu fassen, ohne sie zu erklären – damit gewinnt er meine Begeisterung. So will ich auch einmal schreiben, nicht wortklug oder alles umfassend, sondern nackt und zerknittert; über die Wege, die das Leben mir bietet, in all seiner Unbeholfenheit.

Während ich lese, schweife ich ab. Das Buch öffnet mich, meine Gedanken, spricht mich an und all meine Sinne. Es fahren zwei Züge in meinem Kopf, Zukunft und Vergangenheit. Die meine Zukunft und das, was von Benno übrig blieb, kostbar bewahrt, beschrieben. Das ist alles.

Dieser Wunsch selber zu schreiben, wird lebendig. Er war schon oft in mir, doch selten so fühlbar. Am liebsten gleich hier und jetzt, denke ich. Doch ich muss warten, bis Worte aus meinem Innern fliessen können, so wie bei Uwe. Seine Worte trocknen Tränen, so kommt es mir vor. Tränen, die er zuerst weinen musste. Gedanken sortieren? Vielleicht erlebe ich diesen Moment noch, ich kann es nicht wissen, nur wünschen.

Ehrfürchtig lese ich weiter. Geniesse das Buch, halte es fest in meinen Händen.

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